Sonntag, 15. November 2009

WIE HABAKUK DIE WELT ERLEBTE 6

Nach den schlechten Erfahrungen in Sparta lenkte ich meine Schritte gegen Attika. Es wird in Hellas auch friedfertige Leute geben, spekulierte ich. Doch weit gefehlt, mein lieber Onkel Habakuk. Wenn man mir in Sparta das Fürchten gelehrt hatte, so konnte ich in Athen das Gelernte sogleich anwenden. Einige zehn Meilen vor meinem Ziel, kurz nach der Herberge „Zum Schwulen Schäfer“ wurde ich von einer Meute von Wegelagerern überfallen. Ich konnte vor lauter Angst nicht einmal Grüß Zeus sagen. Im Nu war meine Reisetasche leer, die Oboli, die du mir liebenswürdigerweise vor kurzem erst geschickt hast, waren unter den Räubern verteilt, meine Eselin Ruhla war unter Freudenrufen abgeführt. Nichts Neues in dieser schrägen Welt, wirst du dir denken. Damit hört aber diese unselige Geschichte noch nicht auf. Meine Wegelagerer begnügten sich nicht mit einer schlichten Plünderung.
Procrustes, wir haben einen! Komm, Procrustes! Procrustes, hole dein Bett!, riefen sie im wüsten Durcheinander.
Ein großer, zotteliger, verrohter Mann trat aus dem Pinienwald. Unter seinem Arm trug er ein Eisenbett. Sein gebieterischer Blick ließ alle verstummen.
Dieser muss der Häuptling der Straßenräuber sein, dachte ich mir und hatte recht.
Bindet ihn fest! Befahl der Mann, den die anderen Procurustes nannten.
Viele Hände packten mich, im Handumdrehen war ich auf das Eisenbett gebunden. Procrustes trat hinzu und musterte mich von Kopf bis Fuß. Einmal, zweimal, dreimal durchmaß er mich mit seinen Augen. Dann nahm sein Gesicht einen enttäuschten, zornigen Ausdruck an und mit einem Fußtritt stieß er das Bett um.
Ich fiel auf das Gesicht. Das tat weh.
Nach einer Weile banden mich seine Leute los.
Glückspilz, sagte mir einer.
Warum, mein Freund, fragte ich. Man hat mich ausgeplündert, meine Eselin abgeführt, mich gefesselt, zu Boden geworfen, es leuchtet mir also nicht ein, warum ich dabei ein Glückspilz sein sollte.
Procrustes, antwortete mir dieser, bindet seine Opfer auf jenes Eisenbett. Ist einer kleiner als das Gerüst, so lässt er ihn so lange strecken bis er gleich lang ist; ist einer indes größer, so hackt er ihm die Füße ab. Du hast Glück, genau so lange zu sein, wie das Bett. Nicht einmal die Zehennägel konnte er dir schneiden.
Diese Gleichmacherei, lieber Onkel, scheint mir eine fragwürdige Sache. Wenn die Idee um sich greifen sollte, wo wird gewiss einmal einer lehren, es gäbe überhaupt keine Unterschiede zwischen den Menschen. Ob faul oder fleißig, ob gescheit oder dumm, ob tapfer oder feige, alle werden auf Standardmaß geschneidert. Man wird sie dann in Uniforme stecken und sie mit Nummern, statt mit Namen benennen.
Wenn aber alle gleich sind, wie wird man dann Weltmeister?
N.B. Meine Eselin Ruhla hat nachts den Strang durchgebissen und hat mich im Morgengrauen am Flussufer gefunden. Vielleicht schien ihr die Gesellschaft dieser rohen Gesellen auch nicht zu behagen.

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