Dienstag, 18. Mai 2010

DIES IRAE DIES ILLAE

Endlich war es soweit! Das Brautpaar aus Bukarest rüstete sich zum schönsten Tag im Leben, zur Hochzeit. Das Brautkleid zehrte zwar an der Substanz der mageren Ersparnisse, das Hochzeitsessen zertrümmerte das Sparschwein, doch bekanntlich macht Geld allein nicht glücklich, denn das wahre Glück entspringt der Liebe: das stolze Lächeln des Bräutigams, die feuchten Augen der Braut zeugten von dieser Wahrheit, als sie die Kirche betraten. Dort wartete der Priester. Er lehnte sich lässig an den Altar und stützte einen Arm seitlich ab. Das Paar kam näher, der Bräutigam kniff die Augen zusammen, die Braut runzelte die Stirn. Eine mächtige Alkoholfahne wehte ihnen entgegen. Der wird doch nicht schon am Morgen getrunken haben, dachte der junge Mann. Wenn das nur gut geht!
Es ging nicht gut.
Der Priester wandte sich schwankend um und waltete seines Amtes. Doch statt des Trauungszeremoniells rezitierte er die Totenlitanei. Das Brautpaar erstarrte, der Messdiener zog am Gewand des Geistlichen, viele der Anwesenden räusperten sich. Der Gottesmann fuhr unbeirrt fort, seine Stimme für die ewige Ruhe der jungen Leute zu erheben. Plötzlich platzte dem Bräutigam der Kragen. Er begann den Priester zu verprügeln. Die Braut setzte nach und schlug mit verzerrten Gesichtszügen auf den Trunkenbold ein. (Neue Zürcher Zeitung, 18. Februar, 1995).
Bei der Taufe ihres Erstgeborenen wandten sie sich nicht mehr an diesen Diener des Herrn. Er hätte das Kind vielleicht nicht getauft, sondern beschnitten.

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