Mittwoch, 19. Februar 2014

Habakuk beim Pfarrer

Mein lieber Onkel Habakuk. Auf meiner Reise kam ich im Jahr 1733 in ein kleines Dorf namens Etrépigny in der Champagne vorbei. Ich suchte eine Herberge, man wies mich an, beim Dorfpfarrer nachzufragen. Man sagte mir, dieser wäre ein heiligmässiger Mann, der ein strenges Leben der Abstinenz führte und jedes Jahr den Teil von seinem Gehalt an die Armen verteilte, der ihm sein bedürfnisloser Lebensstil übrig liess. Als ich bei ihm anklopfte, wurde ich von einer alten Haushälterin empfangen, die mich in sein Zimmer führte. Mit grossem Bedauern musste ich feststellen, dass der arme Mann krank darniederlag und ihm allem Anschein nach nur noch kurze Zeit auf diese Erde vergönnt war. Dennoch wies er mir mit schwacher Stimme ein Zimmer zu und forderte mich auf, mich zu erfrischen und dann zu ihm zu sitzen. Ich dachte, er würde bei mir Trost suchen, doch weit gefehlt! Mit grosser Gelassenheit teilte er mir mit, dass er nun bald sterben würde und lächelte mich verklärt an. Er zog unter seinem Kopfkissen ein Manuskript hervor und überreichte es mir. Er bat mich, es in Ruhe zu lesen und anschliessend wieder zu ihm zurückzukommen. Bereitwillig erfüllte ich ihm diesen letzten Wunsch. Ich zog mich also in meine Kammer zurück und begann zu lesen. Gross war meine Verblüffung, als ich mich in diese Schrift versenkte. Sie begann damit aufzuzeigen, dass die Bibel voller Widersprüche ist und die Wunder sowohl im Alten wie im Neuen Testament entweder frommer Schwindel oder falsch verstandene Naturerscheinungen waren. Die Unsterblichkeit der Seele war alles andere als ein Trost, nachdem ein fürchterlicher Gott nur die wenigsten Menschen mit dem Himmel belohnen würde, die meisten aber in die Hölle schickte. An einem solchen Gott könne ein denkender Mensch nicht glauben. "So müsst ihr also einsehen, ihr Theologen", hiess es, "dass euer Gott euren eigenen Prinzipen gemäss bösartiger ist, als der bösartigste der Menschen." Die Vorsehung wird mit schmeichelhaftem Lob für die aufmerksame Sorge gepriesen, die sie dem Schicksal der Menschen beschert. Doch das Menschengeschlecht ist ständig damit beschäftigt, sich vor den bösartigen Machenschaften dieser Vorsehung zu schützen, die sich angeblich nur um die Bewahrung ihres Glückes kümmert. Schliesslich holte der Verfasser zum Rundschlag gegen den Glauben aus. Welcher normale Mensch könnte glauben, dass Gott in der Absicht, sich mit der Menschheit zu versöhnen, seinen eigenen unschuldigen und makellosen Sohn opfern würde? Und es ging in diesem Stil weiter, wobei ich einsehen musste, dass alles vernünftig tönte. Am nächsten Morgen begab ich mich zu meinem Gastgeber, der ein wenig besser aussah, als bei meiner Ankunft. "Hast du in das Manuskript hineingeschaut?", war seine erste Frage. Als ich ihm diese bejahte, wollte er wissen, was ich davon hielte. Ich habe es mit Interesse, Überraschung und Anerkennung gelesen. Die Menschen glauben alles, wenn man es ihnen von klein auf eintrichtert. Aber wer in aller Welt gab Ihnen, dem Pfarrer, diese Schrift?, wollte ich von ihm wissen. Ich sage es dir, falls du mir versprichst, dass du das zu meinen Lebzeiten nicht weitersagst, aber wenn ich tot bin, musst du das Büchlein veröffentlichen. Ich hatte keinen Augenblick mit der Antwort gezögert und ihm versprochen, seinen Wunsch zu respektieren. Ich habe das verfasst, flüsterte er. Aber Sie waren doch Pfarrer, der seinen Schäflein den Glauben stärken musste. Ich habe ihnen gedient mit Liebe, Fürsorge, Verständnis und Geduld. Meine Moral kommt nicht von diesem monströsen Gott, den die Kirche predigt, sondern von der Einsicht in die Not des Menschen. Danach schwiegen wir lange. Ich fragte ihn, als ich ging: wie heissen Sie Herr Pfarrer. Nenne mich nicht Herr Pfarrer. Jean Meslier ist mein Name. Verbrennt den Schund und die Leiche dieses Ketzers, rief der Papst, als er viel später die Schrift las. Recht hat er. Nachdenken ist bei den Theologen nämlich verboten, mein lieber Onkel Habakuk. Ich Grüsse dich herzlich Dein Neffe Ibrahim

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