Montag, 20. Juni 2011

Jahwes helle Köpfe

Kürzlich wurde ich gefragt, wann das „dunkle Mittelalter“ aufgehört hatte. „Wie dunkel?“, war meine Gegenfrage. „Und wo?“
Vielleicht gibt es Menschen, die denken, dass die „Dunkelheit“ des Mittelalters eine Art Polarnacht war, wo die Leute bleich und blutleer ohne Sonnenlicht ihr Dasein fristeten. Doch nein, die Sonne ging damals wie heute am Morgen auf und am Abend unter. Doch die Dunkelheit machte sich in den Köpfen breit. Und deshalb ist die zweite Frage nach dem Wo sehr angebracht. Denn in vielen Köpfen herrscht selbst heute noch Finsternis.
Ein Rabbiner-Gericht in Jerusalem wollte ein Urteil fällen über einen streunenden Hund. Die Gottesmänner erachteten es als erwiesen, dass dieses Tier die Reinkarnation eines vor zwanzig Jahren verstorbenen, nicht religiösen Anwalts war, der damals das Gericht beleidigt hatte. Es versteht sich von selbst, dass ein solch teuflisches Tier auf der Strasse Panik auslösen musste.
Das Rabbiner-Gericht beriet und urteilte mit reinem Gewissen: Todessstrafe durch Steinigung, ausgeführt durch Kinder. Doch wer kann schon den Teufel bestrafen? Nicht einmal die weisen Rabbiner. Der nicht religiöse Anwalt, alias Teufel, alias streunender Hund überlistete Jahwes Minister. Er entwischte ihnen und raubte den armen Kindern das Vergnügen der Steinigung. Jetzt warten wohl die Rabbiner auf die neue Reinkarnation des gottlosen Anwalts.
(Vgl. NZZ am Sonntag, 19.Juni 2011, S. 3)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen