Sonntag, 6. Juni 2010

NOBLESSE OBLIGE

Le siécle d’or; welch mythischer Begriff. Folgt einer den schwärmerischen Erläuterungen der Fremdenführerin in Versailles, könnte man meinen, im Olymp der Zivilisation angekommen zu sein. „Gloire“, nennen die Franzosen ihre Geschichte …
Trotz der schönen Formen, die den Hof von Ludwig XIV. geprägt haben, glänzten wichtige Details nicht wie Gold. Die hochtrabenden Namen der Adeligen sind aus den Geschichtsbüchern bekannt; weniger bekannt waren die Sitten dieser Herren. Im Louvre urinierten sie zum Beispiel auf die Treppen und spuckten auf die Böden. Toiletten gab es in den Schlössern der Könige selten. Im Sanssouci etwa begaben sich die Gäste in den Park, um ihre Notdurft zu verrichten. Da kauert die Gräfin soundso im Gebüsch. Neben ihr steht breitbeinig der Comte irgendwer und erzählt zur plätschernden Begleitmusik seine neuesten Abenteuer mit der Herzogin XY. Und bei Regen? Dann blieb man drinnen und benutzte die Treppen und Korridore.
Eigentlich ist alles eine Frage der Konvention. Wer heute noch Ephesus besucht, wird an einer bestimmten Stelle der Stadt einen kleinen Platz mit einem offenen, hufeisenförmig angelegten Graben antreffen. Das waren die öffentlichen Toiletten. Man saß auf einer niedrigen Mauer, verrichtete sein Geschäft, winkte den Neuankömmlingen, nickte einander zu und plauderte über die letzten Neuigkeiten.
Im Film von Louis Buñuel, „Das Gespenst der Freiheit“ werden Einladungen an Freunde und Bekannte verschickt, wir heute, doch nicht zur Party sondern zum gemeinschaftlichen Stuhlgang. Zunächst sieht das alles ziemlich gewöhnlich aus. Festlich gekleidete Menschen stehen in einem Raum und diskutieren. Man blickt auf die Uhr. Die Gesellschaft beschließt anzufangen, obwohl jemand in Verspätung ist. Man setzt sich um einen Tisch. Die Stühle sind Toilettenschüssel. Dann triff die Säumige ein, entschuldigt sich, hebt den Rock auf und setzt sich ebenfalls. Der Gedankenaustausch beginnt in befremdender Manier. Die Magd bietet der Versammlung Papierrollen an. Einer der Gäste flüstert ihr etwas ins Ohr, worauf sie mit der Hand in eine Richtung weist. Der Gast öffnet eine Türe und befindet sich in einem kleinen Raum. Er klappt ein Fach aus, entnimmt ihm ein Sandwich und isst es hastig in seinem Versteck.
Wer würde sich da schon über die stinkenden Korridore von Versailles wundern?

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